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GEHEN, GING, GEGANGEN ~ Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck steht momentan mit ihrem Roman >Kairos < auf der Shortlist vom Booker Prize. 2018 war sie schon einmal nominiert mit >Gehen, ging gegangen<. Bis dato hatte ich nur eines ihrer Bücher gelesen >Heimsuchung<. Ihre erneute Nominierung nahm ich zum Anlass mich ihren weiteren Büchern zu widmen, die an mir unverständlicherweise vorbeigegangen waren.

Ort der Handlung ist Berlin und beginnt auf dem Oranienplatz, wo einige Asylsuchende aus Afrika in Zelten kampieren. Der emeritierte und verwitwete Professor Richard wird durch Zufall auf die Flüchtlinge aufmerksam und wecken sukzessive sein Interesse. Als der Platz nach einem Protest geräumt wird und die Männer in eine andere Unterkunft kommen sucht Richard zu ihnen Kontakt. Er hat Fragen. Wie: Wo kommst du her? Hast du einen Beruf? Hast du Familie? Warum bist du hier? Was ist passiert? Um nur einige aufzuführen. Und er stellt sich selbst Fragen:

Warum eigentlich wird den Männern in einem Land, in dem selbst der Anspruch auf einen Himmel im Jenseits von der Arbeit abhängt, das Recht arbeiten zu gehen, verweigert? Warum werden sie hier eigentlich nicht nach ihrer Geschichte befragt, und dementsprechend als Kriegsopfer versorgt?

Seite 84

Richard führt viele Gespräche und erfährt Stück für Stück die unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Er begibt sich immer weiter auf die Seite eines Handelten und Helfer. Unterstützt bei Einkäufen oder Behördengängen und entdeckt so manches Paradoxon.

Wie viele Betreuer gibt es denn für die Gruppe? Zwölf halbe Stellen.

In der Stimme von Apoll hört er: Wir bekommen Geld, aber ich will lieber Arbeit. In der Stimme von Tristan hört er: Poco lavoro. In der Stimme des Klavierspielers hört er: Ja, ich will arbeiten, aber es ist nicht erlaubt. Zumindest zwölf Deutsche also haben die Flüchtlinge durch ihren Protest schon halbe Stellen verschafft.

Seite 172

Jenny Erpenbecks Roman ist auffallend facettenreich und erinnerte mich an meine Zeit 2015 als ehrenamtliche Deutschlehrerin. In der Ära >Wir schaffen das< schwamm ich durchs Ungewisse umgeben von den unterschiedlichsten Kulturen und Glaubenszugehörigkeiten. Und da ist mir Richard so nah, doch er geht viel weiter. Er sucht Antworten. Das hat mir unglaublich imponiert und meine Sichtweise geschärft. Richard ist einsam in einem großen Haus und schlittert so unverhofft in ein komplexes Thema, welches er genau beleuchten versucht. Dieses Leben in Frieden welches er lebt und die konträren Lebenslinien der Flüchtlinge sind bewegend und wirken authentisch. Und dieses vom Wegsehen zum Hinsehen ist intelligent und einfühlsam dargestellt. Jenny Erpenbecks sprachlicher Stil ist schnörkellos und besticht durch seine Intensität. Und einen speziellen Kunstgriff hat sie eingebaut, denn ihr Roman ist in 55 Kapitel unterteilt und zeigt somit die 55 Länder des Kontinentes Afrika. Für diese Aufteilung sind zum großen Teil die ehemaligen Kolonialmächte verantwortlich.

Ich möchte noch so vieles schreiben über dieses Buch, doch lest es selbst.

>Gehen, ging, gegangen < ist wichtige Gegenwartsliteratur über Flucht und Vertreibung. Große Leseempfehlung!

  • GEHEN, GING, GEGANGEN
  • Jenny Erpenbeck
  • Roman
  • Knaus Verlag
  • ISBN: 9783813503708
  • 351 Seiten
  • Erschienen 2015

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