
Hier möchte ich einen Pageturner vorstellen, der mich begeistert hat. Von der Story, der Dramaturgie, den Charakteren und vom Stil. Der Titel klang schon verheißungsvoll. Blaues Wunder: Die Redewendung „sein blaues Wunder erleben“ kann auch als Drohung genutzt werden, die darauf hinweist, dass jemand noch mit einer unangenehmen Überraschung rechnen muss. Im Mittelalter konnte die Farbe Blau für Lügen oder falsche Versprechungen stehen.
Walter Bronstein, der Leiter einer Privatbank, lädt seine zwei besten Mitarbeiter Ferdinand und Kilian zusammen mit ihren Ehefrauen Nora und Franziska auf seine luxuriöse Yacht ein. Eine der konkurrierenden Angestellten erhält die Aussicht auf eine angesehene und lukrative Beförderung. Aber wer das sein wird, ist noch ungewiss. Mitreisende sind Walters Gattin Rachel, ihr gemeinsamer erwachsener Sohn David sowie diverses Bordpersonal. Aus den Perspektiven der drei Frauen wird erzählt, die beobachten, taxieren, reflektieren und ihre Strategien immer wieder neu ausloten.
Walter Bronstein verkörpert einen echten Patriarchen. Jeder muss nach seinen Vorgaben handeln, da sonst Repressalien drohen. Doch alle Gäste bewahren ihre Fassade und haben ihre eigenen Abgründe, bis es zu Bruchstellen kommt, da Bronstein geschickt geheime Details in die Gruppe einstreut und immense Spannungen zwischen den Paaren entstehen.
„Die Wahrheit ist wie Wasser, das überkocht und sich auf der Herdplatte verteilt. Ich mustere meinen Mann. Er scheint die anderen auszublenden – obwohl er über mich statt mit mir gesprochen hat, hat er es nur zu mir gesagt.”
Anne Freytag versteht es meisterhaft, Spannung zu erzeugen, und bietet zugleich Platz für eigene Spekulationen. Das Buch zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass alle Figuren nuanciert ausgearbeitet sind. Ein zentrales Thema ist die Abhängigkeit in der Beziehung und im Beruf. Die Frau repräsentiert, wie ein Schmuckstück, eine toxische Männerwelt. Aber genau diese Männerwelt hat die starken Frauen nicht in ihre Kalkulation einbezogen.
„Nora hat sich zwei Mal heimlich eine Träne weggewischt, ansonsten hat man ihr nichts angemerkt. Sie hat gelächelt, sich unterhalten, Fragen gestellt, Interesse gezeigt. Diese Form der Stärke kenne ich nur von Frauen. Frauen wissen, dass man durch manche Situationen einfach durchmuss.”
Ein kraftvoller Roman mit faszinierender Schonungslosigkeit! Ausgesprochene Leseempfehlung!
Auf dem Cover ist ein Abschnitt eines Kunstwerks von Martin Wehmer mit dem Titel „Kouwf“ abgebildet. Es stellt einen Frauenmund dar. Die Oberlippe ist rot, die Unterlippe pink.
- Blaues Wunder
- Anne Freytag
- Roman
- Kampa Verlag
- ISBN: 9783311101451
- 251 Seiten
- Erschienen 2025
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