
In Psychopompos verwandelt Amélie Nothomb den Schmerz über den Tod ihres Vaters in eine poetische Erkundung des Unsichtbaren. An der Schwelle zwischen Erinnerung und Mythos begegnet sie der Gestalt des Psychopompos, jenem mythischen Seelenführer, der die Verstorbenen über die Grenzen des Lebens geleitet. Ausgehend von ihrer Kindheit als Tochter eines Diplomaten in Japan, China und Bangladesch, erforscht Amélie Nothomb die geheimnisvolle Symbolik der Vögel, die als Boten zwischen Leben und Tod erscheinen.
„Der Ausdruck „essen wie ein Spatz” ist der Gipfel des Widersinns. Jeder Vogel muss pro Tag das Dreifache seines Gewichtes aufnehmen, wenn er so viel fliegen will, wie er sollte. Von morgens bis abends ist er auf der Suche nach dieser kolossalen Nahrungsmenge. Stellen wir uns vor, wir müssten soviel essen wie die Spatzen – wir verbrächten unser ganzes Leben im Supermarkt. Wäre das unser Los, hielten wir uns bestimmt nicht für frei.”
Durch das Schreiben verwandelt Nothomb den Schmerz in Bewegung, das Schweigen in Sprache. Sie selbst wird zur Psychopompin ihrer eigenen Trauer. Eine, die nicht führt, um zu vergessen, sondern um zu bewahren. In der literarischen Geste des Begleitens findet sie eine Form der Liebe, die über den Tod hinausreicht.
„Bei allzu tiefen Temperaturen beginnen manche Vögel, herzzerreißend schön zu singen. Dafür gibt es keine biologische Erklärung. Die einzige Hypothese, die Ornithologen zu bieten haben, lautet: Die Offenbarung der Schönheit verringert die Angst vor der Kälte. Wenn es sehr heiß ist, kann man noch so sehr die Ohren spitzen – kein Vogel singt.”
Besonders eindrucksvoll ist, wie Amélie Nothomb persönliche Erfahrung und mythologische Dimension miteinander verwebt. Aus autobiografischen Fragmenten entsteht ein literarisches Mosaik, das den Leser in eine fragile, fast schwebende Zwischenwelt führt. Die Symbolik der Vögel, die als Boten zwischen den Sphären erscheinen, öffnet Räume für Deutung und Empfindung. Dies fand ich sehr stark!
Amélie Nothombs Sprache ist zugleich klar und geheimnisvoll, von einer leisen Intensität, die den Schmerz nicht überdeckt, sondern verwandelt. Psychopompos ist weniger ein klassischer Trauerroman als eine poetische Initiation, ein Text über das Weiterleben durch das Erzählen. Ein stilles, ergreifendes Werk, das zeigt, wie Literatur zu einem Ort der Begleitung werden kann. Über Grenzen, Zeiten und Leben hinweg. Ausgesprochene Leseempfehlung!
Das Cover zeigt eine Illustration einer Teilansicht eines Kranichs, der in den Farben hellblau, gelb, weiß, rot, schwarz und braun gehalten ist. Alle Schriften sind schwarz und samt der Illustration auf einem weißen Hintergrund.
- Psychopompos
- Amélie Nothomb
- Roman
- Diogenes Verlag
- ISBN: 9783257073294
- 127 Seiten
- Übersetzt von Brigitte Große
- Erschienen im Juni 2025
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