
Die Geschichte beginnt in einem Sommer, an der Schwelle zu jenem »wirklichen Leben«, von dem die Erwachsenen sprechen und das für Natascha erst noch beginnen soll. In Glanitz, einem Provinzort von überschaubarer Weite, verdichtet sich ihre Welt zwischen Fußballplatz, Bushaltestellenhäuschen und Jahrmarkt. Und immer ist sie da: die Hand. Eine Präsenz, die sich an ihren Oberschenkel schmiegt wie ein lauernder Fisch, die Grenzen überschreitet, ohne zu fragen, während der Himmel vom tiefen Nachtblau ins fahle Blau des Morgens kippt und der Rausch alle Stimmen dämpft.
Fünf Jahre später hat Natascha die Enge hinter sich gelassen. In einer besetzten Knopffabrik lebt sie mit ihrer Wahlfamilie, nennt sich nun Nao und erprobt eine neue Ordnung: ohne Vergangenheit, ohne Hierarchien, ohne festgeschriebene Rollen, nur ein gemeinsames »Wir«. Doch das Früher lässt sich nicht abstreifen. Die Erinnerungen drängen sich auf und zwingen Nao zu einer Bewegung zurück, zu einer Suche nach Sprache und Selbstermächtigung. Mit großer Unmittelbarkeit und Dringlichkeit schreibt Ann Esswein gegen Ohnmacht und Scham an, gegen jenes namenlose Unbehagen der Jugend, für das es lange keine Worte gab.
„Finde die Schuldigen, solange du noch lebst. Finde dich nicht damit ab, dunkle Kisten im Keller zu haben. Die öffnen sich irgendwann, es kriecht die Kellertreppe hinauf, holt dich ein, wenn du am wenigsten wehrhaft bist.”
Der Roman von Ann Esswein konfrontiert mit einer Jugend und einem Umfeld, deren Vertrautheit schmerzt, nicht nur persönlich, sondern wohl für viele Frauen. Gerade weil sich diese Erfahrungen so beunruhigend wiedererkennen lassen, entfaltet der Text seine Wirkung. Ann Esswein durchbricht konsequent die nostalgische Verklärung der Jugendzeit und findet eine präzise, eindringliche Sprache die sichtbar macht, was so häufig verschwiegen, bagatellisiert oder ins Vergessen gedrängt wird. So wird der Roman zu einer wichtigen literarischen Gegenrede gegen romantisierte Erinnerungen und kollektives Wegsehen. Jahre ohne Sprache eignet sich in besonderer Weise für die gemeinsame Lektüre im Lesekreis. Der Text öffnet Räume für Selbstreflexion und vermutlich so manche dunkle Kiste. Ausgesprochene Leseempfehlung!
Das Cover zeigt die grafische Darstellung eines Frauengesichts, das in nuancierten Lila-, Pink- und Blautönen gehalten ist. Kräftige weiße Streifen durchziehen das Motiv wie Flussläufe und strukturieren die Fläche. Die Typografie greift diese Farbwelt auf und erscheint in Rosa-, Orange- und Fliedertönen.
- Jahre ohne Sprache
- Ann Esswein
- Roman
- Ecco Verlag
- ISBN: 9783753001210
- 208 Seiten
- Erschienen im November 2025
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