
Was bedeutet Familie? Im klassischen Sinne: Das Zusammenleben von mindestens zwei Generationen ist ein kennzeichnendes Merkmal einer Familie. Familie bietet ihren Mitgliedern Raum für Wachstum, Entwicklung und Geborgenheit und spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Kompetenzen künftiger Generationen. So die Kurzform.
Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine scheinbar gewöhnliche spanische Mittelstandsfamilie, deren Mitglieder nach außen hin eine intakte, harmonische Einheit darstellen. Der Vater Damián ist Anwalt, ein Verehrer Ghandis, sozial engagiert, sehr sparsam. Er führt seine Familie bestehend aus seiner Ehefrau Laura und die Kinder Damián, Rosa, Martina und Aqui mit eiserner Hand und fordert Disziplin und gehorsam. Damián verfügt über einen patriarchalischen Kontrollwahn. Was aus seinem Munde kommt ist Gesetz. In seinem Hause gibt es weder Geheimnisse noch verfügen die Kinder über einen eigenen Wohnungsschlüssel.
„Sieh dir doch Ghandi an”, sagte er zu Mutter. „ Nichts als Fasern, Feinheit, Geradlinigkeit, Prägnanz. Alles Überschüssige, Unmäßige, ist zurückzuweisen.”
Jedes der Kinder entwickelt sich innerhalb des engen familiären Korsetts auf seine eigene Weise und sucht seinen Platz in der Familienhierarchie.
„Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, weshalb das eigentliche Problem nicht darin bestand, keine Fernseher zu haben, sondern darin, dies vor den anderen zugeben zu müssen – wie peinlich! Damián, Rosa und Martina täuschten in der Schule vor, diesselben Filme zu sehn wie alle anderen, so wie sie auch vorgaben, sie würden zum Geburtstag und zu Heilige Drei Könige Geschenke bekommen. Sie hatten gelernt ungeniert zu lügen…..”
Das Haus fungiert einerseits als Schutzwall gegen die Außenwelt, erzeugt andererseits jedoch eine isolierende Atmosphäre. Die Familienmitglieder empfinden eine Gefangenschaft in ihren Rollen, sind jedoch nach außen hin zur Solidarität und zum Zusammenhalt gezwungen. Die Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben außerhalb der engen Grenzen des Hauses wird besonders aus den Perspektiven der Kinder deutlich. Diese Sehnsucht bleibt jedoch meist unerfüllt, da jede Art von Ausbruch mit Schuldgefühlen und Ängsten verbunden ist.
Nüchtern, klar und präzise – so lässt sich Mesas Stil beschreiben. Anstelle von Pathos und großen Gesten richtet sie die Aufmerksamkeit auf das Unsagbare und die Zwischenräume. Die Erzählung wechselt zwischen den Perspektiven der verschiedenen Familienmitglieder, wodurch die inneren Konflikte und die Komplexität der Beziehungen verstärkt zur Geltung kommen. Oft kommen Rückblenden und Erinnerungen zum Einsatz, wodurch die Bedeutung vieler Ereignisse nur allmählich deutlich wird. Im Verlauf der Handlung treten kleine und große Risse in der Familienfassade zutage. Ausgesprochene Leseemfehlung!
Auf dem Cover ist ein Bild eines Wohnraumes abgebildet. In der Raummitte steht ein Tisch, um den herum vier Stühle auf einem großen Teppich platziert sind. Im Hintergrund befindet sich ein Fenster mit Gardinen, rechts im Bild steht ein Schrank und links ist ein Sofa zu sehen.
- Die Familie
- Sara Mesa
- Roman
- Wagenbach Verlag
- ISBN:978-3-8031-3374-8
- 204 Seiten
- Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen
- Erschienen 2025
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