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Die Arbeit der Nacht ~ Thomas Glavinic

Zuerst ist es nur ein kaum merkliches Stolpern im Alltag: Die Zeitung fehlt vor der Tür, der Fernseher spricht nur in Rauschen, und selbst das Radio scheint seine Stimme verloren zu haben. Doch aus der kleinen Unregelmäßigkeit wird eine Erkenntnis, die wie ein Schatten über alles fällt: Wien ist leer. Menschenleer. Und Jonas scheint allein zu sein. Ganz allein. So taumelt er durch diese Stille, die schwerer wiegt als jedes Geräusch. Hat eine unsichtbare Katastrophe zugeschlagen? Ist er der Letzte, der übrig blieb? Oder haben alle anderen rechtzeitig die Flucht ergriffen? Und wenn ja, wovor?

Auf der Suche nach Antworten wandert Jonas durch Straßen, die plötzlich zu Bühnen ohne Publikum geworden sind. Er durchstreift verlassene Läden, betritt Wohnungen, in denen das Leben wie ein unterbrochener Atemzug in der Luft hängt. Schließlich steigt er in einen Truck, als könne die Bewegung die Starre vertreiben, und macht sich auf, Spuren der Vermissten zu finden.

Jonas sucht weiter, nicht nur nach einem Zeichen dafür, dass irgendwo noch Leben existiert, sondern auch nach den verschütteten Fragmenten seiner eigenen Vergangenheit. Er durchquert Europa, treibt durch Städte und Landschaften, als könne Bewegung die Leere füllen, doch immer wieder zieht es ihn zurück nach Wien, in das Zentrum seiner Verlorenheit.

Aus Angst, irgendeinen Hinweis zu übersehen, beginnt er, die Nacht selbst zu belauschen: Er bespielt Kassetten mit Stille, als könnte diese eines Tages zu sprechen beginnen. Videokameras platziert er wie stumme Zeugen, die die Starre des leeren Raums dokumentieren sollen. Und doch ist auf all den Aufnahmen nur er zu sehen. Er und bald ein zweites Wesen, das aus ihm herauszuwachsen scheint: ein schlafendes Abbild, das er „den Schläfer“ nennt, obwohl es nicht immer schläft. Zwischen Jonas und diesem Doppelgänger entspinnt sich ein unsichtbarer Kampf, ein Ringen mit der eigenen Seele, mit der Unmöglichkeit der Situation, mit der Frage, wer er noch ist, wenn die Welt um ihn verschwunden ist.

Schließlich führt seine Suche ihn nach England, dahin, wo seine Freundin zuletzt gewesen war. Er findet sie nicht, nur einen Koffer voller Dinge, die von ihrem Leben erzählen, von den Momenten, die sie geteilt hatten. Mit diesem Koffer kehrt er zurück, und ein bitteres Verständnis breitet sich in ihm aus: dass die Leere, die ihn umgibt, längst in ihm selbst angekommen ist. Die Sinnlosigkeit seines Seins legt sich wie ein Schatten über alles.

Das Buch ist trotz seiner handlungsarmen Struktur fesselnd, getragen von Jonas’ Gedanken, die in einer Welt ohne Echo verhallen. Seine Taten ändern nichts. Seine Beobachtungen gelten vor allem der Unveränderlichkeit um ihn herum. Doch in dieser Starre beginnt Jonas selbst sich zu wandeln. Paranoia keimt auf, ein gefährliches Spiel mit Risiken nimmt seinen Lauf und mündet schließlich in einen Autounfall. Nicht Selbstzerstörung treibt ihn an, sondern der verzweifelte Wunsch, eine Situation zu durchbrechen, die sich nicht auflösen lässt. Es ist weniger das Alleinsein, das ihm zusetzt, als die Last des Verlusts und die unbeantwortete Frage nach dem Warum.

Gleichzeitig fordert der Roman heraus. Die Thematik bleibt haften, stellt unbequeme Fragen und wirkt lange nach. Mitleid empfindet man kaum; man bleibt Beobachter, so still wie Jonas selbst, beinahe wie eine Kamera, die nur registriert. Doch gerade diese Distanz lässt seine Gedanken über Vergangenheit und Gegenwart, Glück, Liebe und die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit tief nachklingen.

Thomas Glavinic zeichnet das Bild eines Menschen, der sich selbst neu begegnet, weil die Welt um ihn herum verstummt ist. Es stellt sich die Frage, was Mensch sein noch bedeutet, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, um es zu spiegeln. „Die Arbeit der Nacht” ist ein Roman der mich unglaublich berührt hat. Ausgesprochene Leseempfehlung!

Das Cover zeigt ein Foto eines verwaisten Hallenbades. Das leere Becken liegt trocken und kahl vor einem, und darin stehen nur ein einzelner Tisch und ein Stuhl. Die Beschriftungen erscheinen in Weiß und Orange auf dunkelgrauen Hintergrund.

  • Die Arbeit der Nacht
  • Thomas Glavinic
  • Roman 
  • Hanser Verlag 
  • ISBN: 9783446207622
  • 394 Seiten 
  • Erschienen 2006

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