
Seit meiner frühen Jugend habe ich Bücher über die Shoa gelesen, und die Geschichten vom Erlebten, Ertragenen und allem, was damit verbunden ist, werden mich sicherlich weiterhin begleiten. Mein Hauptaugenmerk liegt nicht auf der Ansammlung von Greueltaten und dem damit einhergehenden Leid. Nein, meine Ausgangsannahme ist eine ganz andere. Ich will diesen Zeitzeugnissen mit Achtung und Respekt begegnen. Ich möchte diese Stimmen hören und lesen.
Bela Winkens, 1941 geboren, war erst 1996 in der Lage, in »Brief an die Mutter« einen Brief an ihre Mutter, die im KZ Auschwitz 1943 ermordet wurde und die Bela nie wirklich kennenlernen konnte, zu verfassen. Sie berichtet ihr von ihrer Kindheit, ihren Erinnerungen an das KZ Theresienstadt, das sie im Alter von vier Jahren überlebte, und davon, wie sie im Laufe ihres Lebens gelernt hat, mit Schmerz und Trauer als Überlebende umzugehen.
„50 Reichsmark hat diese „Reise” gekostet. 50 Mark für jeden von uns. Es heißt, dass sieben Personen zu arm waren, um sich ihre eigene Deportation leisten zu können, an deren Ende schon der Tod wartete. Für ihren Transport musste die jüdische Gemeinde von Düsseldorf aufkommen. Der Profit aus all der menschlichen Ware? Hunderttausende! Reichsmark. Nur aus Düsseldorf!”
In Theresienstadt war es, als der SS Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt” gedreht wurde. Unter der Regie des ebenfalls deportierten Regisseurs Kurt Gerron. ( Hochinteressant dazu „Gerron” von Charles Lewinsky) Dieser Film sollte die Massenvernichtungspolitik verschleiern und das Ghetto als angenehmen Aufenthalt darstellen. Doch zurück zu Bela, die schreibt mit der großen, mit der innigen Sehnsucht eines Kindes. Sie erzählt von ihrem Lagerleben, von ihrer Befreiung und von ihrem großen Glück ganz wunderbare Pflegeeltern gefunden zu haben. Und als sie selbst Mutter einer Tochter wird beginnt sie sich mit ihrem Erlebten mehr auseinanderzusetzen. Schaut auf alten Fotos nach ihrer Identität und verarbeitet ihre traumatischen Erlebnisse in Prosa und Lyrik.
„Kleine Zwischenfrage, Mutter. Weißt Du, wie dein Wert ist? Oder der von Vater? Ich kann es Dir sagen: exakt 3.200 DM! Pro Elternteil. So hoch belief sich damals die „Wiedergutmachung” für Dich.”
„Brief an die Mutter” ist ein berührendes Porträt einer Kindheit inmitten der Shoa und vom unermesslichen, traumatischen Verlust der Mutter und dem Leben danach. Bela Winkens beschreibt in ihrem Brief die qualvolle Ohnmacht, die sie angesichts der Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber ihren eigenen Verbrechen empfindet. Sie schildert den offenen Antisemitismus, dem sie in ihrer Kindheit und Jugend in der Zeit nach dem Krieg ausgesetzt war. In dem Nachwort von Gabi Bauer und Peter Piro ist folgender Satz zu lesen:
„Wir Juden sind in der extremen Lage, beweisen zu müssen, was uns geschehen ist.”
Ausgesprochene Leseempfehlung!
- Brief an die Mutter
- Bela Winkens
- Verbrecher Verlag
- ISBN: 9783957326102
- 213 Seiten
- Erschienen 2025
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