
Die Handlung dieses mit dem in Frankreich ausgezeichneten „Bestes Buch des Jahres 2019″ beginnt mit dem Tod des Vaters in einem Krankenhaus.
„Und so fand ich mich allein mit ihm wieder, meinem gefallenen Helden, meiner einbeinigen Kanaille, meinem misanthropischen König, dem alten Knochen, während es draußen langsam dunkel wurde.”
Anne, die Ich-Erzählerin, kehrt in das Haus ihrer Kindheit zurück. In diesem Haus sind Erinnerungen an ihre Jugend und an die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, einem Mann, der über Jahre unter starkem Alkohleinfluss seine Familie tyranisierte und seine Frau misshandelte.
„Heute noch, wenn ich in Reportagen über häusliche Gewalt höre, wie sich Leute darüber entrüsten, dass manche Frauen nicht den Mut haben zu gehen, möchte ich ihnen am liebsten sagen: „Euch würde ich gern mal sehen.” Euch würde ich gern sehen, wie ihr am Sonnatagabend mit blauem Auge und zerrissenem Nachthemd hastig einen Koffer für eine in Neonlicht getauchte Unterkunft packt. Euch würde ich gern sehen, wie ihr im Hagel von Beleidigungen und Drohungen die Kraft findet, mit euren Kindern vom Hof zu laufen, um in einen Zug zu steigen, ohne zu wissen, ob und zu welchen Bedingungen es je ein Zurück geben wird.”
Diese Passage habe ich bewußt gewählt um hier die Intensität zu vermitteln, welches Trauma in Anne hochkocht während sie mit ihrem Bruder die Bestattung planen, das Haus entrümpeln und ausräumen muss. Dabei entdeckt sie alte Briefe, Fotos und Dokumente, die ein ganz anderes Bild von ihrem Vater zeichnen. Diese Funde und die Gespräche mit Nachbar*innen und Freund*innen ihres Vaters helfen ihr, das komplexe Wesen ihres Vaters besser zu verstehen.
„Dennoch waren der Alkohol und seine Leidenschaft für das Zen ungefähr zu selben Zeit aufgetaucht. Im Grunde weiß man nie wirklich, ob jemand trinkt, um Schiffbruch zu erleiden, oder Schiffbruch erleidet, weil er trinkt.”
Das Buch ist durchzogen von Rückblenden, die Episoden aus dem Leben des Vaters und der Familie zeigen. Diese Erinnerungen sind oft ebenso humorvoll wie schmerzhaft und geben Einblick in die Liebe, die Konflikte und die Geheimnisse, die die Familie geprägt haben.
Anne Pauly fesselt mit ihrer klaren, poetischen Sprache. Die Emotionen und Gedanken der Protagonistin werden von ihr präzise und eindringlich dargestellt, was es ermöglicht, sich gut in ihre Lage zu versetzen. „Bevor ich es vergesse“ handelt von Verlust, Erinnerung und der Suche nach der eigenen Identität. Es verdeutlicht, dass das Leben aus zahlreichen Facetten besteht und dass das Verständnis für unsere Vorfahren uns dabei helfen kann, uns selbst besser zu verstehen. Große Leseempfehlung!
Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet und stieß auf großes Lob bei Kritiker*innen und Leser*innen. Er ist eine eindrucksvolle literarische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ein eindringliches Porträt einer Vater-Tochter-Beziehung.
Das Cover zeigt einen Ausschnitt eines Gemäldes einer Pfingstrose in verschiedenen Rot und Rosatönen. Die Schriften sind weiß.
- Bevor ich es vergesse
- Anne Pauly
- Roman
- Luchterhand Literaturverlag
- ISBN: 9783630876689
- 172 Seiten
- Auf Deutsch erschienen 2024
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