
Hier nun der sehr erwartete vierte Teil des siebenteiligen Romanzyklus von Solvej Balle. Tara Selter ist noch immer im 18. November gefangen. Ein Datum, das sich weigert, zur Vergangenheit zu werden und ihr Leben weiterhin in der immer gleichen Gegenwart hält.
Mit jedem vergehenden, immer gleichen Datum wächst die Zahl jener, die im 18. November gefangen sind. Tara Selter lebt mit einer kleinen Gemeinschaft von Zeitverirrten in einer Bremer Villa, doch beinahe täglich suchen neue Gesichter Zuflucht hinter der schweren Tür. Allmählich wird deutlich, dass es sich nicht um vereinzelte Schicksale handelt: Weltweit gibt es weit mehr Menschen, die niemals am 19. erwachen. In Osnabrück haben sie sich ebenso zusammengefunden wie in Lüttich, Lugano oder Lyon.
Die Zusammenkünfte der Bremer Gruppe dienen zunächst einem vorsichtigen Versuch der Ordnung. Sie ringen um Worte für eine Wirklichkeit, die sich den gewohnten Begriffen entzieht. Was bedeuten Wochen oder Monate in einer Zeit, die weder Jahre noch Jahreszeiten kennt? Und wie sollen sie sich selbst nennen, wie die anderen, die ahnungslos jeden Morgen neu beginnen? Loopers, Noopers, Tracers, Erasers. Namen, die mehr verbergen als erklären.
Doch mit dem stetigen Zustrom der Neuankömmlinge verlieren solche sprachlichen Spitzfindigkeiten an Gewicht. Drängender werden die Fragen nach Verantwortung und Moral. Ist diese endlose Gegenwart eine Einladung, täglich drohende Katastrophen von der Welt fernzuhalten? Oder liegt der wahre Kampf im eigenen Körper, im schleichenden Älterwerden, das sie nicht mit jedem Morgen abstreifen können?
Nicht allein Taras Verletzlichkeit und die ihrer Gefährten nährt die Unruhe. Es ist auch die Erkenntnis, dass von ihnen selbst eine Gefahr ausgeht. Denn während das Tun der anderen im ewigen Reset verpufft, schreiben ihre Handlungen Geschichte. Was sie verändern, bleibt. Und genau darin liegt die Schwere ihres Daseins.
„Wir waren die Kleinlauten, die Sorglosen. Vielleicht waren wir zu höflich, um uns aus dem Achtzehnten freizuprügeln. Wie waren diejenigen, die vorsichtig an die Tür zum Ausgang klopften und sich zurückzogen, wenn keine Antwort kam. Wir traten keine Türen ein. Wir waren die Verwirrten. Die die Rückfahrkarte vergessen oder sie unterwegs verloren hatte.”
Auch dieser Band erweist sich erneut als eindrucksvolle Balance aus Science-Fiction-Motiven und anspruchsvoller literarisch-philosophischer Reflexion. Solvej Balle gelingt es, spekulative Ideen nicht als bloßes Gedankenspiel auszubreiten, sondern sie mit existenzieller Tiefe und sprachlicher Präzision zu durchdringen. Nicht umsonst stand der erste Band des Zyklus diesem Jahr auf der Shortlist des International Booker Prize. Eine Anerkennung, die die außergewöhnliche Qualität dieses Projekts ebenso bestätigt wie seine stille, nachhaltige Wirkung. Und so warte ich nun gespannt auf Teil V. Ausgesprochene Leseempfehlung!
Das Cover präsentiert ein vielfach gespiegelt wirkendes Foto eines Raumes, in dessen Zentrum eine Uhr steht, gehalten in gedämpften Braun- und Blautönen.
- Über die Berechnung des Rauminhalts IV
- Solvej Balle
- Roman
- Matthes & Seitz Verlag
- ISBN: 978-3-7518-1040-1
- 184 Seiten
- Übersetzt von Peter Urban-Halle
- Erschienen 2025
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