
Die namenlose Ich-Erzählerin leidet an Bruxismus ( Wenn Menschen ihre Zähne aufeinanderpressen, dann spricht man in der medizinischen Fachsprache von Bruxismus. Zähneknirschen kann nachts während des Schlafes (Schlafbruxismus) oder im Wachzustand (Wachbruxismus) auftreten.
„Neulich habe ich gelesen, man könnte den Mund als Gefängnis begreifen. „Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes”, hieß es dort, „in diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse.” Ich hätte sagen wollen, ich habe die Wörter zu lange gefangen gehalten, und jetzt ist es zu spät. Elias sagte einmal zu mir:„Du denkst immer alles zu Ende, bevor du sprichst.” Die Wahrheit scheint zu sein: Ich zermalme jedes einzelne Wort, bevor ich spreche.”
Die Ich-Erzählerin beginnt von den Familien zu erzählen, die in dem in Deutschland kaum bekannten Kosovokrieg ( Ende der 1990er Jahre) alles verloren haben: ihre Heimat, ihre Angehörigen, ihre Gewissheit. Die Erinnerung an die Ermordeten, die anonym verscharrt oder bis heute nicht identifiziert sind, zieht sich wie ein unsichtbarer roter Faden durch den Text. Sie berichtet von den Spätfolgen als Kind von Geflüchteten aus dem Kosovo. Ihre Muttersprache Albanisch, musste sie mitunter verdrängen und die deutsche Sprache veränderte ihren Kiefer.
Auch herrscht Sprachlosigkeit über das generationsübergreifende Trauma. Doch wo gehen diese unterdrückten Emotionen hin? Sie werden im Körper abgespeichert und äußern sich irgendwann mit verschiedenen Symptomatiken. Wie etwa dem Zähneknirschen.
Es sind eine Vielzahl von Themen die die Ich-Erzählerin bewegen wie: Identität und Zugehörigkeit – Wie entdeckt man die eigene Stimme, wenn zwei Sprachen, zwei Kulturen und zwei Geschichten aufeinandertreffen? Welche Elemente nimmt man auf, welche lässt man weg. Oder sind einige Teile immer vorhanden, auch wenn sie nicht ausgesprochen werden? Trauma und Nachwirkungen: Nicht nur der Krieg selbst, sondern auch die Auswirkungen von Flucht, Migration, von Sprache und Schweigen. Wie Gewalt und Verlust sich nicht einfach durch Distanz oder Zeit abschwächen. Erinnern und Vergessen: Wie geht man mit den Erinnerungen um, die nicht einfach Teil der offiziellen Geschichte oder des kollektiven Gedächtnisses sind? Was bleibt im Verborgenen, was kann oder darf erzählt werden?
Es werden die Leistungen und das Verschweigen einer Sprache untersucht. Wie redet man über etwas, das nicht zu fassen ist? Welche Wörter sind vorhanden, welche fehlen? Es gelingt Jehona Kicaj, das Unaussprechliche greifbar zu machen. Das geschieht ohne jegliche Anklage, sondern durch die Darstellung einer Sprachlosigkeit, die sich zu einer einzigartigen Sprache entwickelt.
„Ich spreche eine Sprache, die in Deutschland konserviert wurde; ein eingefrorenes Albanisch, das ich in meinem Mund warm halte.”
„ë“ ist ein vielschichtiger, poetischer und politischer Roman über das Ausmaß von Sprache, von Identität, von Flucht, vom Leben in einer Diaspora, von Trauma, von Migration und von Integration. Ein tiefgehendes und berührendes Debüt, welches zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025 steht und dem ich den Gewinn wünsche. Ausgesprochene Leseempfehlung!
Das Cover zeigt den albanischen Buchstaben „ë“ in Schwarz, der in der albanischen Sprache eine zentrale Funktion hat, obwohl er meist gar nicht ausgesprochen wird, auf weißem Hintergrund.
- ë
- Jehona Kicaj
- Roman
- Wallstein Verlag
- ISBN 978-3-8353-5949-9
- 176 Seiten
- Erschienen im Juli 2025
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