
Sind wir für alle Zeiten mit unseren Müttern verbunden?
„Irgendwo unter dem neuen Morgen, zwischen Novembergrau und Kindergesichtern, musste sie ihr eigenes Kind vergessen haben.”
Über Frankfurt an der Oder, Ende der siebziger Jahre, spannt sich der Himmel weit. Dort oben, in der Kanzel ihres Krans, fühlt sich Tina der Welt enthoben. Der Blick reicht über Gerüste und Rohbauten, über die Zukunft aus Beton, die einmal Heimat sein soll für sie, für Mischa, für das Kind, das sie im Arm wiegt. Alles scheint möglich, solange die Höhe trägt. Doch die Zeit hält andere Versprechen bereit. Mischa, dessen Herz im Rhythmus der Musik schlägt, verlässt 1986 nach einem Auftritt im Westen die gemeinsame Geschichte und kehrt nicht zurück. Mit einem Schlag verliert Tinas Leben das Gleichgewicht. Was bleibt, ist Leere, die sich nicht mit Arbeit, nicht mit Hoffnung füllen lässt. Als die Mauer fällt, klammert sie sich an ein Glück, das nur geliehen ist und bezahlt dafür mit dem Schwersten: der Trennung von ihrem Kind.
Viele Jahre später, in einem Land, das sich selbst neu erfunden hat, beginnt eine andere Frau zu erzählen. Eine Schriftstellerin, die widerwillig bei einer Zeitung anheuert, um zu überleben. Sie wird schwanger, glaubt für einen Moment an Halt. Doch kurz nach der Geburt verschwindet der Vater des Kindes aus ihrem Leben. Auch sie steht vor dem Abgrund, an dem Entscheidungen endgültig werden und wählt einen Weg, der ihr Leben ebenso unausweichlich prägt wie das ihrer Muttergeneration.
Yvonne Zitzmann findet eine Sprache von leiser Schönheit und großer Wärme. Mit poetischem Blick und tiefem Mitgefühl erzählt sie von Mutterschaft und einer Schuld, die sich wie ein Schatten durchs Leben zieht, und von der Sehnsucht nach Versöhnung. Sie schreibt über die unsichtbaren Fäden der Kindheit, die uns halten, formen und manchmal nicht loslassen wollen und von tiefgreifenden Entscheidungen die das Leben in eine ungewollte Richtung zwingt. Eine Geschichte über zwei Frauen – zwei Mütter – zwei Schicksale – die mich von Anfang an in ihren Bann gezogen hat. Die Figuren sind fein gezeichnet, ihre Lebenswege berühren und regen zum Nachdenken an. Ein Roman, der lange nachhallt. Ausgesprochene Leseempfehlung!
Das Cover zeigt eine unscharfe Fotografie: eine Frau mit einem Kind. Die weißen Lettern heben sich von einem zart bläulichen Hintergrund ab.
- Die geteilte Schuld
- Yvonne Zitzmann
- Roman
- btb Verlag
- ISBN: 978-3-442-76306-1
- 304 Seiten
- Erschienen im September 2025
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